Neue Technologien, alte Kämpfe

Sind Druck, Kontrolle und Unsicherheit sowie zweifelhafte Geschäftsmodell der Fortschritt, den wir brauchen? Nein, die führen zu einem neuen Klassenkampf, der aber schon seit langem geführt wird. Ein Kommentar von Veronika Bohrn Mena. Eigentlich ist die Digitalisierung nichts Neues, immerhin hat sie schon vor rund 30 Jahren begonnen. Computer, das Internet und Algorithmen sind in nahezu allen Lebensbereichen integraler Bestandteil unseres Alltags. Die vergleichsweise junge öffentliche und politische Debatte rund um die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf uns bietet allerdings wichtige Gelegenheiten, ganz besonders wenn es darum geht zu hinterfragen, was der ständige technische Fortschritt, der Wandel am Arbeitsmarkt und die beschleunigten Prozesse, die mit der Digitalisierung einhergehen, für uns Menschen bedeuten.

Viele zeitintensive, bürokratische Arbeitsschritte sind beispielsweise weggefallen, lange Wartezeiten wegen langsamer Internetverbindungen, langwieriger Inventuren oder überholter Prozesse wie Faxe oder Geschäftsbriefe gibt es nicht mehr. Für die Beaufsichtigung und Wartung von Maschinen braucht es nur noch wenige Fachkräfte, und sehr, sehr vieles kann bequem vom Büro aus erledigt werden, wofür früher noch ein Weg zu KollegInnen, in ein Lager oder zu anderen Abteilungen notwendig war.Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung im Zuge der Industrialisierung:

  • kürzere Arbeitszeiten
  • längere Erholungszeiten
  • Schutzvorschriften, um Arbeitsverletzungen und Unfälle zu reduzieren
  • stärkere soziale Absicherung für Phasen von Krankheit und im Alter

Das sind ideale Voraussetzungen, um die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu verbessern und die gewonnene Zeit zu unser aller Gunsten zu verteilen – sollte man meinen. So wurden im Zuge der Industrialisierung vergleichsweise viele Verbesserungen für die arbeitende Bevölkerung umgesetzt, wie kürzere Arbeitszeiten, längere Erholungszeiten, Schutzvorschriften, um Arbeitsverletzungen und Unfälle zu reduzieren, und eine stärkere soziale Absicherung für Phasen von Krankheit und im Alter.

Fortschritt, Rückschritt, Wechselschritt?

Wenn wir uns nun auf der Suche nach wesentlichen, ähnlich schwerwiegenden rechtlichen Verbesserungen für Beschäftigte in der aktuellen Arbeitswelt umsehen, dann sieht das Bild leider anders aus. Seit der Einführung der 40-Stunden-Woche im Jahr 1975 wurde die Arbeitszeit in Österreich nicht mehr verkürzt – im Gegenteil, sie wurde von der aktuellen ÖVP/FPÖ-Regierung gerade wieder verlängert. Das jährliche Arbeitszeitvolumen ist leicht im Steigen begriffen, auch der guten Konjunktur geschuldet. Unsere Erholungszeiten haben dank Smartphones, rund um die Uhr eintrudelnden Mails und „flexiblen“ Arbeitszeiten auch nicht zu-, sondern abgenommen.

Unsere Erholungszeiten haben dank Smartphones, rund um die Uhr eintrudelnden Mails und „flexiblen“ Arbeitszeiten nicht zu-, sondern abgenommen.

Durch die beschleunigten Arbeitsprozesse wurde der Personalstand auch nicht zur sinnvollen gegenseitigen Unterstützung und Entlastung der Beschäftigten in ähnlichem Ausmaß aufrechterhalten. Es wurden die von Unternehmen lieblos als „Kopfstellen“ bezeichneten MitarbeiterInnen bis auf das absolute Minimum eingespart. Eine traurige Erkenntnis hat sich durchgesetzt: Der erste Budgetposten, bei dem heute Einsparungen vorgenommen werden, ist das Personal. Und das beschränkt sich nicht einmal auf die Beschäftigten, die bei Umstrukturierungen vor die Tür gesetzt werden, es betrifft auch jene, die neu einsteigen.

Ständiges und lautes Gejammer und vermeintlich großes Leid vernehmen wir hingegen von den UnternehmensvertreterInnen. Die „Lohnnebenkosten“, also die soziale Absicherung der Beschäftigten und ihrer Familien, „alte Privilegien“, also adäquate Löhne und Gehaltssprünge oder ältere unbefristete Angestellte mit alten Kollektivverträgen, die sich nicht einfach entsorgen lassen, sollen gar das Grundübel unseres Arbeitsmarkts darstellen.

Der Umgang mit den Beschäftigten hat teilweise sogar wieder so rückständige Züge angenommen, dass man zwangsläufig wieder an altes TagelöhnerInnentum denken muss. Besonders bei Frauen: Nur mehr 47 Prozent arbeiten in einem Normalarbeitsverhältnis.

Druck, Kontrolle & Unsicherheit

Mit dem technischen Fortschritt ist auch eine neue Form der Überwachung am Arbeitsplatz eingezogen. Programme lassen Vorgesetzte auf die Bildschirme der Beschäftigten zugreifen, sodass sie jeden einzelnen Arbeitsschritt am Computer mitverfolgen können. Videoüberwachung auf Gängen dokumentiert, welche Beschäftigten wann und wie viele Rauchpausen machen oder die Toilette aufsuchen. Beschäftigte im Außendienst werden durch „Tracking“ auf Schritt und Tritt verfolgt, selbst dann, wenn es sich um pseudoselbstständig beschäftigte Kuriere oder ZustellerInnen handelt.

Videoüberwachung auf Gängen dokumentiert, welche Beschäftigten wann und wie viele Rauchpausen machen oder die Toilette aufsuchen. Beschäftigte im Außendienst werden durch „Tracking“ auf Schritt und Tritt verfolgt.

Praxisferne Algorithmen geben Beschäftigten strikte Zeitvorgaben für ihre Arbeitsschritte vor und erzeugen damit einen wahnsinnigen Druck. Lebensmittellieferanten werden etwa nur zwölf Minuten für jede Zustellung zuerkannt, unabhängig davon, ob die Wetterbedingungen, der Verkehr oder die Parksituation dies überhaupt zulassen. Werden die Zeitgrenzen einmal am Tag nicht erreicht oder durch eine ungeplante Toilettenpause nicht eingehalten, sind die Beschäftigten den ganzen restlichen Tag über auf der Aufholjagd.

Online-Plattformen bieten „neue“ Beschäftigungsmodelle, bei denen LieferantInnen, Reinigungskräfte, ProgrammiererInnen oder GrafikerInnen zu „Neuen Selbstständigen“ erklärt werden, die für obszön kümmerliche Honorare rund um die Uhr schuften müssen, um zumindest ein Taschengeld zu verdienen. Mit Stückpreisen von 45 Cent pro zugestelltem Paket oder zwei bis drei Cent für kurze, einfache Clickarbeiten lassen sich kaum menschenwürdige Lebensbedingungen finanzieren. Zudem werden die Arbeitenden dafür nicht einmal arbeitslosen-, kranken- oder pensionsversichert, sondern müssen sich darum ebenso selbst kümmern wie um ihre Steuererklärung.

Üble Geschäftsmodelle

Aber nicht die neuen Technologien, Roboter, Online-Bestellungen, Apps oder die Vermittlung über Plattformen sind das Problem hinter diesen unwürdigen Arbeitsbedingungen und Verschlechterungen für die Beschäftigten. Der digitale Fortschritt könnte schließlich ebenso gut sinnvoll zur Unterstützung und Entlastung der Beschäftigten eingesetzt werden und unser aller Leben erleichtern. Das schwere rückenschädigende Heben und Bewegen von pflegebedürftigen Menschen könnte beispielsweise von Robotern übernommen werden, dem Pflegepersonal könnte dadurch mehr Zeit für Ansprache und Anteilnahme den PatientInnen gegenüber eingeräumt werden.

Der digitale Fortschritt könnte ebenso gut sinnvoll zur Unterstützung und Entlastung der Beschäftigten eingesetzt werden und unser aller Leben erleichtern.

Algorithmen könnten genauso gut mit Zeitpuffern anstatt dem absoluten Minimum programmiert werden, illegale Kontrolle unterbunden, Arbeitszeiten reduziert und Mindestlöhne anstatt von Boni erhöht werden. Auch die Verantwortung auf die KonsumentInnen abzuwälzen wäre zu einfach. Es wäre rückständig, Menschen zu diktieren, dass sie sich ihre Pakete, Einkäufe und Speisen nicht mehr bequem nach Hause liefern lassen sollen. Und noch dazu vollkommen unrealistisch, zu glauben, dass es einen Weg zurück gäbe und so eine Rückkehr in die Vergangenheit durchsetzungsfähig wäre.

Geschäftsmodelle dürfen Gewinne nicht durch die Ausbeutung der Beschäftigten lukrieren.

Nur weil wir uns gerne eine Pizza liefern lassen wollen, bedeutet das doch nicht, dass diejenigen, die uns die Pizza zustellen, dafür als Scheinselbstständige nur einen Hungerlohn erhalten sollen. Die RadkurierInnen müssen bloß ordentlich angestellt, versichert und entlohnt werden. Genauso müssen ihnen ein geeignetes Fahrrad, ordentliche Schutzkleidung und für die kalte Winterzeit passende Schuhe, Handschuhe und Jacken zur Verfügung gestellt werden. Geschäftsmodelle dürfen Gewinne nicht durch die Ausbeutung der Beschäftigten lukrieren.

Neuer alter Klassenkampf

Schuld an den Rückschritten bei unseren Arbeitsbedingungen ist das immer gleiche, stets wiederkehrende Spiel, bei dem Unternehmen ihr Risiko und ihre Kosten auf die Beschäftigten abwälzen wollen. Schon zu Zeiten der industriellen Revolution wurden Schneiderinnen in ihren dürftigen Wohnungen als Heimarbeiterinnen unter Vorenthaltung der Mindestlöhne und Rechte der Fabrikarbeiter beschäftigt. Erst mit Inkrafttreten des Heimarbeitsgesetzes wurde dieser Ausbeutung ein Ende gesetzt.

Das Problem sind menschenfeindliche Geschäftsmodelle, die ihren Profit unter anderem auch darauf aufbauen, dass sie Beschäftigte buchstäblich aussaugen und ihnen das maximal Mögliche an Leistung abringen, während sie die Löhne minimal halten. Aber auch frühere Errungenschaften in diesem stetigen Kampf um den gegenseitigen Interessenausgleich wurden den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften nicht geschenkt. Sie mussten hart erkämpft werden, und es wird weiterhin harte Arbeit sein, bereits errungene Rechte zu verteidigen, und noch härtere, bereits verloren gegangene wieder durchzusetzen.

Die einzige Möglichkeit der Beschäftigten, ein Gegengewicht gegen die stärkere ArbeitgeberInnenseite aufzubauen, ist und bleibt dabei der Zusammenschluss zum Kollektiv.

Die einzige Möglichkeit der Beschäftigten, ein Gegengewicht gegen die stärkere ArbeitgeberInnenseite aufzubauen, ist und bleibt dabei der Zusammenschluss zum Kollektiv. Heute wie gestern und auch in Zeiten der Digitalisierung gilt vor allem eines: Organisieren wir uns!

Ähnliche Beiträge