Von Abstiegsängsten zum Demokratiedefizit – Warum wählen so viele Menschen rechts oder gar nicht mehr?
Wir haben ein Problem – und zwar ein großes, schwerwiegendes Problem. Unser demokratisches System bekommt zunehmend ein Legitimationsdefizit. Seit im Jahr 1992 die Wahlpflicht in Österreich endgültig abgeschafft wurde, sank die Wahlbeteiligung fast stetig. Bei der letzten Nationalratswahl 2013 war sie schließlich bei einem historischen Tiefstand von 74,9 Prozent angelangt. Dabei entfielen mehr Stimmen auf Nicht-WählerInnen, als auf jede einzelne der zur Wahl stehenden Parteien.
Bei der Nationalratswahl 2017, ist sie entgegen dem Trend überraschender Weise wieder gestiegen und bei 79,2 Prozent angelangt. Aber auch dieses Jahr haben ganze 1.3 Millionen Menschen, also über 17 Prozent der Wahlberechtigten, nicht an der Wahl teilgenommen. Gemeinsam mit der Gruppe der wahlfähigen, aber Nicht-Wahlberechtigten, die inzwischen über eine Million Menschen umfasst, partizipieren bald ein Drittel der Bevölkerung nicht mehr an diesem zentralen Instrument unserer Demokratie. Das alleine ist für sich bereits bedenklich, weil die geringere Wahlbeteiligung „zu einer Herrschaft der WählerInnen über die Nicht-WählerInnen führt“, um den deutschen Politikwissenschafter Michael Kaeding zu bemühen.
Eine demokratiepolitisch genauso gefährliche aber weithin unbeachtete Entwicklung ist allerdings, dass die sinkende Wahlbeteiligung unterschiedlich stark ausfällt, je nachdem ob es sich um privilegiertere oder sozial schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen handelt. Menschen in prekären Lebenslagen bleiben bei Wahlen eher zu Hause und gehen nicht wählen, sie haben also weniger Einfluss auf Wahlergebnisse. Es lässt sich sogar ein direkter sozialer Zusammenhang feststellen: Je prekärer die Lebensverhältnisse, desto geringer die Wahlbeteiligung. [1]
Die scheinbar logische, wenn auch hochproblematische Konsequenz daraus ist, dass sich die Politik zunehmend an den Bedürfnissen der gut situierten Gesellschaftsgruppen orientiert. Ein Blick auf die Wirtschaftsprogramme der neoliberalen, rechtskonservativen und extrem rechten Parteien – der Neos, ÖVP und FPÖ also – bestätigt das bereits sehr eindrücklich. Nicht die Interessen der mehrheitlichen Bevölkerung werden vertreten, sondern im Gegenteil, der Erhalt und Ausbau von Privilegien und Pfründen einer kleinen Gruppe, auf Kosten aller arbeitenden, nicht vermögenden Menschen.
Warum gehen gerade jene, die dringend eine starke Vertretung brauchen, nicht mehr wählen?
Eine aktuelle Studie hat diese Frage beleuchtet und bestätigt den allzu naheliegenden Befund: „Das Nicht-Wählen ist Ausdruck eines Gefühls, dass eigentlich gar nichts zu ‚wählen’ ist und alle Parteien gleich ‚korrupte’ Lobbies für die Mächtigen und Reichen sind. Es fehlt an ‚sozialer Gerechtigkeit’.“ Und so schließt sich der Teufelskreis.[2]
Wahlprogramme, Forderungen und politische Maßnahmen orientieren sich an Wählergruppen, die den Parteien ihre Machtpositionen ermöglichen oder sicherstellen. Starke Wählergruppen sind pensionierte, bildungsbürgerliche und wohlhabende Menschen. Junge sind in der Minderheit, „AusländerInnen“ dürfen nicht wählen und Menschen in prekären Lebenslagen gehen seltener wählen. Auch deswegen geben sich Parteien entsprechend weniger Mühe sie zu erreichen, sondern setzen fast alle auf eine „Mitte“. Die nicht näher definierte „Mittelschicht“ wird von allen gleichermaßen umworben, während ein immer größer werdender Teil von Menschen sich mit ihren durchaus berechtigten Abstiegsängsten im Regen stehen gelassen fühlt.
Das Gefühl nicht wahrgenommen zu werden prägt prekär Beschäftigte, arbeitslose und arme Menschen, weil sie durch ihre begrenzten Ressourcen tatsächlich stark an der gesellschaftlichen Teilhabe behindert werden. Wer gerade einmal so über die Runden kommt, kann keinen Hobbys nachgehen, das Wirtshaus oder auch nur das Kaffeehaus besuchen. Arme Menschen leiden unter sozialer Ausgrenzung, sie werden stigmatisiert und von PolitikerInnen nicht selten als „faule Sozialschmarotzer“ oder „Modernisierungsverlierer“ abqualifiziert. Das Bild der „sozialen Hängematte“, in der es arme Menschen, ja selbst Kinder sich bequem machen würden, zieht sich von den Neos, über die ÖVP bis zur FPÖ durch.
Gesellschaftliche Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut werden dabei von einem gesellschaftlichen Problem zu einem scheinbar individuell verursachten gemacht. Und Notleidenden wird vermittelt, dass sie sich für ihre schlechte Lage auch noch schämen müssten. So verwundert es auch nicht, dass folgende Grundbefindlichkeiten bei Nicht-WählerInnen festgestellt wurden: Gefühl massiver sozialer Ungerechtigkeit, des Ausgeliefertseins an bürokratischen Willkür, das Gefühl Bürger zweiter Klasse zu sein, das Gefühl fehlender soziale Ordnung, ein radikaler Vertrauensverlust in die gesellschaftlichen Institutionen, Rückzug und Konzentration auf die Privatsphäre. Die Schlussfolgerung: Das Vertrauen in die Politik fehlt. Oder anders ausgedrückt: „Politiker leben in ihrer eigenen Welt. Warum soll ich das noch mit meiner Stimme legitimieren?“
Wer sind die Menschen, die rechts wählen?
Die deutsche Bertelsmann Stiftung konstatierte schon in ihrer Wahlstudie zur Bundestagswahl 2013: Noch nie war das Gefälle in der Wahlbeteiligung nach Gesichtspunkten von Arbeitslosigkeit, Kaufkraft und Bildung so groß. Der Befund für die gerade geschlagene Bundestagswahl 2017 fällt nicht besser aus, sie spricht von einer „neuen Konfliktlinie in der Demokratie“, denn in Deutschland ist nun passiert, woran wir uns in Österreich schon lange durch die FPÖ gewöhnen mussten. In den sozial prekären Stimmbezirken, die üblicherweise die niedrigsten Wahlbeteiligungen verzeichnen, konnte die AfD viele WählerInnen für sich mobilisieren: „Die etablierten Parteien konnten im Milieu der bürgerlichen Mitte und im sozial prekären Milieu kaum noch Menschen erreichen.“
Und auch wir müssen bei dieser Nationalratswahl nicht nur wieder einen ordentlichen Rechtsruck hinnehmen, sondern einen tiefen Rutsch nach rechts. Es ist erschütternd, dass nicht nur die FPÖ mit 27,4 Prozent ihr bislang bestes Ergebnis erzielt und 5,5 Prozent zugelegt hat. Auch die ÖVP, die ihren Kurs an die Freiheitlichen anpasste und stellenweise sogar versuchte sie rechts außen zu überholen, hat 7,5 Prozent mehr Stimmen dazugewonnen und ist mit Abstand stimmenstärkste Kraft geworden. Gemeinsam mit den wirtschaftspolitisch ebenfalls weit rechtsstehenden Neos, besteht nun eine gefährliche, neoliberale Zweidrittel-Mehrheit im Nationalrat.
Und auch die soziale Spaltung, welche die Bertelsmann Stiftung bei deutschen WählerInnen beschreibt, lässt sich in Österreich gut erkennen. Wie die AfD, wurde auch die FPÖ vor allem von jungen Arbeitern mit eher niedriger formaler Bildung gewählt. Junge Frauen mit höheren formalen Bildungsabschlüssen haben eher SPÖ, Grüne oder Liste Pilz gewählt. Aber das ist nur ein Aspekt, denn Bildung, Alter und Geschlecht alleine reichen nicht aus um so ein Wahlergebnis zu erklären. Weitere Details verraten mehr: Bundesweit haben 59 Prozent der ArbeiterInnen FPÖ gewählt, nur 19 Prozent die SPÖ und 15 Prozent die ÖVP. Laut SORA Analyse sind über 80 Prozent der ArbeiterInnen mit der Leistung der Bundesregierung unzufrieden und 54 Prozent empfinden Österreich als „eher ungerechtes“ Land. Unter Angestellten liegt die ÖVP deutlich vorne.
In Wien, wo die SPÖ insgesamt 3,3 Prozent zulegen konnte, wurde die ÖVP nur im 1., 13. und 19. Bezirk zur stimmenstärksten Kraft. Das sind gleichzeitig jene drei Bezirke mit dem höchsten Jahresbezug aller ganzjährig, vollzeitbeschäftigten ArbeitnehmerInnen. Im 15. Bezirk, in dem viele WienerInnen mit Migrationsgeschichte wohnen, die Einkommen am niedrigsten sind und die Lebenserwartung fünf Jahre niedriger ausfällt als im 1. Bezirk, konnte die SPÖ um 6,1 Prozent dazugewinnen. Auch die Liste Pilz hat hier mit 8,9 Prozent überdurchschnittlich stark abgeschnitten. An den Bezirken sehen wir also, dass es nicht so einfach ist, dass ein niedriges Einkommen und formal niedriges Bildungsniveau automatisch dazu führt, dass Menschen rechts wählen. Auch bildungsbürgerliche, gutverdienende, privilegierte Teile der Bevölkerung wählen rechts, nur haben sie sich mehrheitlich für die Farbe Türkis statt Blau entschieden.
Warum wählen also immer mehr Menschen rechts?
Diese Frage kann auch mit einem Blick auf die Wahlmotive beantwortet werden, die SORA erhoben hat: „86 Prozent der FPÖ-WählerInnen sehen die Entwicklung der vergangenen 5 Jahre negativ und 81 Prozent blicken pessimistisch in die Zukunft, d.h. sie sagen, die junge Generation wird es in Zukunft einmal schlechter haben.“ Unter ihnen lassen sich eindeutig Abstiegsängste als großes Wahlmotiv ausmachen, sie ähneln damit stark der Gruppe der Nicht-WählerInnen. Die FPÖ, die seit Jahren die Erzählung der bösen „Ausländer“ vor sicher herträgt, hat es geschafft, soziale Problemstellungen wie Arbeitslosigkeit zu ethnisieren und so einen einfachen Sündenbock zu kreieren. Sie wirbt zudem aktuell wie keine andere Partei mit dem Gefühl eines Kollektivs. Das gemeinsame „Wir gegen die anderen“.
Bei ÖVP-WählerInnen waren die meist diskutierten Themen identisch mit denen der FPÖ: „Asyl und Integration“ mit 55 Prozent, gefolgt von „Sozialleistungen“ mit 41 Prozent. Sebastian Kurz hat sich im Wahlkampf beim alten FPÖ-Rezept bedient und die konstante Stimulation von Neid auf „Ausländer“, Flüchtlinge und MigrantInnen geradezu perfektioniert. Manchen mag das neu erscheinen, allerdings war die gezielte Abwertung von Schwachen immer schon die ideologische Grundlage für das auf Ungleichheit beruhende Gesellschaftsmodell von konservativen Parteien. Nach dem Motto „Wer unten ist, ist faul, dumm und verantwortungslos. Wer arm oder arbeitslos ist, ist selbst schuld am eigenen Elend“ fällt es leicht, die eigenen Privilegien zu verteidigen, auch auf Kosten von Schwächeren.
Wenn die Zuwendung immer größerer Teile der Bevölkerung hin zu einer rechten und letztlich für sie und uns alle schädlichen neoliberalen Politik, oder gar ihre Abwendung von Wahlen unterbrochen werden soll, muss die die Frage der Lebensbedingungen und sozialen Absicherung der Menschen wieder in den Fokus gerückt werden. Der rechten Erzählung von der Schuld der „Fremden“ an Not, Abstieg und Prekarisierung, muss eine Antwort kollektiver Ermächtigung entgegengesetzt werden. Auf die gezielte Vereinzelung durch das Schüren von diffusen Neidgefühlen und der bewussten Rollenumkehr bei sozialen Missständen, muss mit einem klassenbewussten Narrativ geantwortet werden.
Menschen dabei auf Augenhöhe zu begegnen und Abstiegsängste ernst zu nehmen ist wichtig und hochnotwendig, denn sie sind keine Einbildung, sondern einer realen Gefährdung geschuldet. Wer sie negiert vergrößert sie, distanziert sich selbst von den Betroffenen und überlässt sie jenen, die mit pauschalierten Schuldzuweisungen ganze Bevölkerungsgruppen diskreditieren und diffamieren. Es heißt aber nicht, die scheinbar einfachen Antworten der Rechten zu übernehmen. Denn das legitimiert und stärkt letztlich nur jene, die ebendiese bereits seit langem oder seit kurzem in neuer Verpackung, im Schüttelreimformat und sozialmedialer Dauerberieselung verbreiten.
[1] Bertelsmann Stiftung – Prekäre Wahlen 2013
[2] EFAS – „Gib mir was, was ich wählen kann.“- Demokratie ohne Langzeitarbeitslose? Motive langzeitarbeitsloser Nichtwähler/innen